Neulich habe ich Gerti getroffen. Ich war beim Bäcker gewesen, wo ich für 52,- Euro und 60 Cent vier Semmeln und eine kleine Packung Kaffeeersatz gekauft habe. Damit komme ich eben aus der Tür, will mein Lastenfahrrad beladen — ich habe noch ein altes ohne Strom mit Gepäckträger hinten — da stürzt die Gerti auf mich zu. Fast wäre ich erschrocken vor lauter Überraschung. Gerti hat sich gar nicht verändert. Sie trägt immer noch denselben roten Minirock mit grünen Punkten und die durchsichtige beige Bluse. Auch der BH ist der gleiche geblieben. Fliederfarben und spitzenbewährt. Nur die Haut ist etwas runzliger geworden. Aber ja, ich bin auch nicht mehr faltenfrei um das Doppelkinn. Und auch ich schlurfe immer noch in den gleichen Klamotten.
Klar, die Zeiten sind nicht fürs Shoppen gemacht. Aber ich will nicht jammern. Es gibt auch schöne Seiten an der Inflation. Zum Beispiel ist sie mir gleich um den Hals gefallen, die Gerti, und hat mich auf den Mund geküsst, in ihren Augen Tränen der Wiedersehensfreude. Der Kajal hatte sich aufgelöst in schwärzliche Wasserfarbe. Sie wollte mich gar nicht mehr loslassen.
Ja, auch die Begrüßungsrituale sind teurer geworden. Wozu früher ein einfaches Handreichen oder gar nur ein Kopfnicken genügte, muss heute schon mit Herzschmerz-Theatralik bezahlt werden. Ich antwortete umgehend mit einem Liebessonett. Dabei kennen wir uns kaum. Gerti war vor zwei Jahren bei einem Malkurs im oberen Stockwerk, ich bei einem anderen Kurs ebenerdig. Am Weg zur Toilette haben wir uns kennengelernt. „Sind Sie bei den Abstrakten?“ habe ich Sie gefragt. „Ja, und Sie bei Glanz und Gloria?“ „Richtig. Ich heiße Martin. Sagen wir Du!“ „Ich bin die Gerti.“ An der abgetragenen Kleidung haben wir uns wiedererkannt. Das Prekariat hat seine eigene Romantik.
Glanz und Gloria 2024
Lecture # 089-24 |
12 students
| 520 EUR pP |
Mon 10.06.- Sat 15.06.2024| 6 days
MO-FR 10-17 Uhr| SA 10-13 Uhr
089-24